von Karl-Heinz Drescher, Leipzig
Nach zwei Tagen Vergatterung reisten die Referenten aus dem Riesengebirge zurück
an ihre Dienstorte, im Gepäck den klaren Auftrag, die "Judenpolitik"
des Nationalsozialismus mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln
zu unterstützen. Was das hieß, konnte kaum einem der Anwesenden verborgen
geblieben sein. Gruppenleiter Horst Wagner jedenfalls wertete die Krummhübel-Konferenz
im Sommer 1944 als "großen Erfolg", sein Chef Ribbentrop unterrichtete
Hitler persönlich davon.
Auch wenn sich aufgrund des Kriegsverlaufes nur wenige konkrete Maßnahmen
als Folge des Treffens nachweisen lassen, die Konferenz von Krummhübel
bedeutete eine ganz und gar unzweideutige Willensbekundung des Auswärtigen
Amts, die "Endlösung" mitzutragen und bei ihrer Umsetzung auf
das Engste mit der SS zusammenzuarbeiten. Ist damals in Krummhübel wirklich
offen über den Massenmord gesprochen worden? Die im Protokoll festgehaltenen
Äußerungen von Alfred Six und anderen deuten darauf hin. Mindestens
wurden die Vorgänge im Osten dort in einer Weise umschrieben, dass die
Teilnehmer einen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung annehmen
mussten. Ausdrücklich ließ von Thadden Einzelheiten der von ihm beschriebenen
"antijüdischen Exekutivmaßnahmen" aus Geheimhaltungsgründen
nicht protokollieren.
Um nicht als Mitwisser der Vernichtung angeklagt zu werden, behaupteten nach
dem Krieg fast alle Teilnehmer, Formulierungen wie "antijüdische Exekutivmaßnahmen"
oder "physische Beseitigung des Ostjudentums" hätten keineswegs
die Vernichtung der Juden gemeint. Andere leugneten, dass diese Ausdrücke
überhaupt gefallen seien. Ribbentrop wollte während des Nürnberger
Prozesses noch nicht einmal von der Tagung gewusst haben. Dass "Endlöser"
Eichmann so kurzfristig abgesagt hatte, wurde für die Teilnehmer nachträglich
zum Glücksfall, wäre er dabei gewesen, Historiker und Kriminalisten
hätten sich die Vorgänge dort sehr viel genauer angeschaut. Krummhübel
wäre in den Fokus der Weltgeschichte geraten.
So aber spielten die Beteiligten nach 1945 die Bedeutung von Krummhübel
mit vereinten Kräften herunter. Für die einen war die Tagung eine
reine "Lachnummer", andere behaupteten, es sei allein darum gegangen,
das Propagandaministerium auszustechen. Die einzige Tagungsteilnehmerin erklärte,
sie habe den Abend zuvor derart mit Six gezecht, dass sie sich an nichts Genaues
mehr erinnern könne. Von Thadden behauptete, er selbst habe in Krummhübel
nur die antijüdische Gesetzgebung referiert. Und Six Vortrag, so von Thadden,
sei lediglich "weltanschauliche Soße" gewesen, die "über
den Pudding einer solchen Tagung zwangsläufig gegossen werden musste".
Die kollektive Verleugnungstaktik hatte Erfolg. Nicht ein Beamter wurde nach
dem Ende des "Dritten Reichs" zur Verantwortung gezogen. Einige der
Tagungsteilnehmer konnten ihre Karrieren nach 1945 sogar fortsetzen. Der Abgesandte
der Pariser Botschaft in Krummhübel, Peter Klassen, wurde schon 1952 wieder
in den Auswärtigen Dienst aufgenommen. Er arbeitete später an den
Missionen in London und Madrid und leitete zwischenzeitlich jahrelang das Politische
Archiv des Auswärtigen Amtes. Franz Alfred Six wurde Werbeberater bei Porsche
und Unternehmensberater in Essen. In der nordrhein-westfälischen Wirtschaft
fand auch von Thadden bis zu seinem Tode 1964 gut bezahlte Posten.
Das Ermittlungsverfahren gegen Horst Wagner verlief ergebnislos. Im Nürnberger
"Wilhelmstraßen-Prozess", englisch "The Ministries Trial"
("Der Ministerien-Prozess"), trat er noch als Zeuge der Anklage auf.
Angeklagt waren führende Angehörige des Auswärtigen Amts und
anderer Ministerien, sowie weiterer nationalsozialistischer Dienststellen. Es
war ein Mammutprozess, der sich vom 15. November 1947 bis zur Urteilsverkündung
am 11. April 1949 hinzog. Danach musste Wagner aufgrund der erdrückenden
Aktenlage selbst eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord erwarten, der er sich
aber durch Flucht nach Südamerika entzog. Nach seiner Rückkehr schrieb
er am 22. Oktober 1953 an den damaligen Bundestagspräsidenten Herrmann
Ehlers: "Nach meiner Auffassung wird sich schwerlich ein lebender Mensch
finden lassen, der so viele Menschen vor einem entsetzlichen Schicksal bewahrt
hat, wie ich es getan habe oder es zumindest versucht habe".
Er hatte damals große Befürchtungen in ein Land abgeschoben zu werden,
aus dem er die Deportation der Juden unterstützt hatte. Ein Gerichtsverfahren
in Osteuropa hätte für ihn eine lange Haftstrafe, vielleicht auch
den Tod bedeutet.
Erst 1972 kam es in Essen zum Prozess wegen Beihilfe zum Mord an über 300
000 Menschen. Es gelang ihm, das Gericht weitere fünf Jahre hinzuhalten,
bis er 1977 starb.
Warum wurde ausgerechnet Krummhübel zum Ausweichquartier des Auswärtigen
Amtes in Betracht gezogen. Seit Beginn der Flächenbombardements in und
um Berlin, spätestens aber seit Anfang des Jahres 1943 gab es Evakuierungsgedanken.
Das Riesengebirge galt allgemein als ein Luftschutzbunker des Reiches und es
lag näher an Berlin als vielleicht Bayern oder ähnliche "sichere"
Gebiete. Aufgrund des immer noch sehr hohen Personalbestandes des AA kamen im
Riesengebirge nur Schreiberhau oder Krummhübel, mit dem inzwischen eingemeindeten
Brückenberg, in Frage. Aus mir unbekannten Gründen entschied man sich
letztendlich für Krummhübel.
In der Nacht vom 01. auf den 02. März 1943 flogen britische Bomber den
bis dahin schwersten Luftangriff auf Berlin, bei dem ganze Stadtteile verwüstet
wurden, so auch das Regierungsviertel um die Wilhelmstraße und das Diplomatenviertel
am Tiergarten. Die Diplomaten suchten sich zunächst größere
Schlösser in der Mark Brandenburg als Ersatz für ihre zerstörten
oder beschädigten Berliner Häuser. Im Auswärtigen Amt (AA) musste
man sich auch Gedanken über die Sicherheit des Diplomatischen Corps machen.
Noch katastrophaler war der Luftangriff am 23. November 1943, 12 000 Tonnen
Bomben legten Berlin in Schutt und Asche. Die Verlagerung der Botschaften, aber
auch die eigene Sicherheit, wurde dringlicher.
Volle fünf Tage wurde verhandelt, ob das gesamte Amt nach Krummhübel
verlegt werden sollte. Vor dem Krieg gab es mit fast allen Staaten der Welt
diplomatische Beziehungen. Jetzt nach Ausbruch des Krieges waren nur sieben
neutrale Staaten übrig geblieben. Der Apparat von einigen tausend Beamten
und Angestellten wurde jedoch aufrechterhalten. Und das in einer Zeit, wo jede
wehrtüchtige Person an der Front gebraucht wurde.
Jetzt endlich geht ein Vorkommando von 300 Mann ins Riesengebirge, um in Krummhübel
Quartiere vorzubereiten.
Als erstes wurde die Kultur-Politische Abteilung und das Referat "R",
wie Russland, nach Krummhübel verlegt. Glücklich waren die Mitarbeiter
darüber nicht. Trotz Bombenangriffe und mancherlei Einschränkungen
bot Berlin immer noch mehr Komfort und Abwechslung, als es im entfernten Riesengebirge
der Fall war.
Die Mitarbeiterin der Presseabteilung und Verantwortliche für das Bild-Archiv,
Marie (Missie) Wassiltschikow, schildert ihre ersten Eindrücke in ihrem
Tagebuch, welches später unter dem Titel "Die Berliner Tagebücher
der Marie-Missie-Wassiltschikow 1940 1945" veröffentlicht wurden,
folgendermaßen: "Das Dorf Krummhübel ist recht hübsch.
Es liegt an einem steilen Hang, die Häuser stehen weit verstreut und sind
von Gärten mit vielen Fichten umgeben. Meine Angst vor Luftangriffen ebbt
langsam ab. Die Büros liegen alle am Fuße des Hanges (gemeint ist
Posterholungsheim "Tannenhof" und AOK-Erholungsheim Lichtenberg, der
Verfasser), und die meisten meiner Kollegen fahren zur Arbeit auf kleinen Schlitten,
die sie abends wieder den Berg hinaufziehen. Eines habe ich schon festgestellt:
Je bedeutender die Leute, desto weiter oben am Hang wohnen sie (gemeint ist
Breitehau und Villenviertel, der Verfasser). Unsere Informationsabteilung ist
offenbar zu kurz gekommen wir sind die Nachzügler, und auch unsere
Chalets sind weniger hübsch als die anderen".
Deutlicher bereits die nächste Einschätzung:
Anlässlich eines Treffens mit dem slowakischen Propagandaminister und Pressechef
Tido Gaspar in Krummhübel kommt von Studnitz, Mitarbeiter der Presseabteilung
im AA, nach 1945 konservativer Publizist, zu folgender Einschätzung:
"Krummhübel ist landschaftlich hübsch, die Pensionen und Hotels
primitiv, die Bevölkerung fremdenfeindlich, zum mindesten gegen das Auswärtige
Amt, in dem sie Ihren bösen Geist sieht. Da das Amt alle Herbergen beschlagnahmt
hat, ohne sie zu benutzen, verdienen die Leute in der Saison kein Geld. Anderseits
setzt das Ministerium für ausländische Diplomaten Häuser instand,
die von dem Eigentümer an Fremde vermietet werden dürfen, wenn sie
sich verpflichten, sie bei Bedarf dem Amt innerhalb von drei Tagen zur Verfügung
zu stellen.
Das Riesengebirge ist eine typische KdF-Landschaft, sehr geeignet für die
Ansprüche weniger verwöhnter Touristen.
Das Amt hat 500 Personen nach Krummhübel evakuiert. Der Ort zieht sich
von der Talsohle bis zur Schneekoppe hinauf. Für den Verkehr zwischen den
weit verstreuten Unterkünften stehen neben einer motorisierten Fahrbereitschaft
22 zweispännige Pferdefuhrwerke zur Verfügung. Die wie Chinesen aussehenden
Kutscher sind Aserbaidschaner, die kein Deutsch können und von Pferden
keine Ahnung haben. Da die Verständigung mit ihnen schwierig ist, werden
jeweils drei Gespanne unter Führung eines deutschen Polizeiwachtmeisters
in Bewegung gesetzt, der seine aserbaidschanische Gefolgschaft mit Befehlen,
wie "Marsch" und "Halt" dirigiert.
Das brauchbarste Objekt im Ort ist ein kleines für Schmidt organisiertes
Holzhaus in dem es sich aushalten lässt. Von höheren Beamten residieren
in Krummhübel Staatssekretär Keppler und Generalkonsul Wüster,
der als Platzkommandant fungiert, sowie eine Reihe älterer Generalkonsuln
und Geheimräte".
(Zur Verständigung: mit "Schmidt" ist Dr. Paul, Leiter der Presseabteilung
gemeint. Bei dem Holzhaus handelt es sich um die Pension "Wilhelmshorst",
damals Pension "Nöldner", auf dem Wege zum Friedhof. "Keppler"
war Hitlers persönlicher Berater für Wirtschaftsfragen und "Wüster"
Fachmann für Propagandafragen).
Wie bereits erwähnt, plante die Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes aus den gleichen Gründen die zentrale Unterbringung des Diplomatischen Corps im Riesengebirge.