von Karl-Heinz Drescher, Leipzig
Krummhübel und das AA (Auswärtiges
Amt), eine fast unendliche Geschichte. Seit über 10 Jahren, seitdem ich
mich mit Heimatforschung beschäftige, interessiert mich, aber auch weitere
geschichtsinteressierte Heimatfreunde aus Krummhübel und Umgebung, dieses
Thema. Getreu dem Sprichwort "Jedermann sagt es, niemand weiß es",
gab es bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Alle diesbezüglichen Recherchen
meinerseits gingen meist ins Leere. Einfache Fragen konnten nicht beantwortet
werden.
Wann kamen die ersten Mitarbeiter, wo wohnten sie, wo waren die Büros,
welche Aufgaben hatten sie, wie lange blieben sie im Ort. Fragen über Fragen
und keine konkreten Antworten.
Diese Unwissenheit hat Ursachen. In Krummhübel, wie auch in anderen Orten
des Reiches, gab es in den letzten Kriegsjahren zumeist nur wehruntüchtige
Bewohner.
Wehruntüchtig war man ab, aber auch bis zu einem bestimmten Alter. Erstere,
die noch etwas wissen könnten, sind bereits vor Jahren verstorben und kommen
daher als Zeitzeugen nicht mehr in Frage. Niederschriften existieren auch nicht.
Nach Kriegsende und anschließender Vertreibung hatte man andere Sorgen
und Probleme, als sich um die Anwesenheit einiger hundert Beamter des AA im
Heimatort zu kümmern. Letztere, zu denen auch ich zähle, haben sich
für die damaligen aktuellen Ereignisse nicht interessiert, auch hätten
sie die Zusammenhänge nicht verstanden. Dennoch ist einiges Wissen erhalten
geblieben, wie weitere Recherchen zeigen sollten.
Persönlich waren mir die Baracken auf dem Sportplatz bekannt und auch die
Anwesenheit der Kosaken, wie wir damals dachten, mit ihren Schlitten und kleinen
Pferden sind mir noch in guter Erinnerung.
Erst nach Kriegsende, als meine Mutter im Riesengebirgsheim arbeitete und wir
auch dort wohnten, wurde der Sportplatz mit den Baracken aus Neugierde oder
Abenteuerlust mein erweiterter Spielplatz.
Eine Episode, in Verbindung mit den Baracken ist, werde ich nie mehr vergessen.
In einem oder mehreren Zimmer waren nagelneue Bücher gelagert. War es nun
mein späteres literarisches Interesse oder der angestammte Sammlertrieb,
ich nahm einige Exemplare mit nach Hause. Noch heute kann ich mich gut an das
entsetzte Gesicht meiner Mutter beim Anblick dieser Mitbringsel erinnern und
an das anschließende Donnerwetter.
Bei den Büchern handelte es sich um Hitlers Machwerk "Mein Kampf".
Unverzüglich musste ich die Bücher dorthin zurück bringen, woher
sie stammten. Auch mein nächster "Erwerb", eine intakte Schreibmaschine,
ging den gleichen Weg zurück.
Sie und weiteres Inventar kamen sicher etwas später in den Besitz polnischer
Beutemacher, die damals die Orte des Riesengebirges durchstreiften.
Jahre später sollte ich erfahren, dass die Baracken Büros und Lagerräume
des AA waren und erst vor wenigen Wochen stellte sich heraus, dass die Kosaken
in Wirklichkeit Aserbaidschaner waren. Auch sie waren ein Teil des AA, aus Ermanglung
von Benzin stellten sie mit ihren Gespannen den Fuhrpark.
Das Thema wäre wohl im Vergessenheit geraten, wenn nicht 1987 "Die
Berliner Tagebücher der Marie "Missie" Wassiltschikow 1940
1945". erschienen wären und dadurch die Arbeit von Teilen des AA in
den letzten Kriegsjahren wieder lebendig geworden wäre.
Das Krummhübel einen bedeutenden Platz in den Tagebüchern einnahm
war ein Glücksfall für die Heimatforschung, aber auch schädlich
für den relativ untadeligen Ruf des bekannten Kurortes.
Einige Autoren nutzten nun die Aussagen der "Missie" für ihre
eigene Interpretation der Geschichte. Das die polnischen Autorinnen des geschichtsverfälschenden
Machwerkes "Karpacz Krummhübel, Geschichte einer Stadt unter
der Schneekoppe" die Tagebücher für ihre Darlegung der Ereignisse
von vor 1945 nutzen, war so zu erwarten. Die Tagebücher wurden 1993 durch
Czytelnik, in Warschau ins Polnische übersetzt. War nun die Übersetzung
mangelhaft oder hat man den Inhalt nicht verstanden bzw. nicht verstehen wollen,
durch die Verlagerung des AA wurde nach ihrer Interpretation Krummhübel
zum Zentrum der Spione. Nicht nur im Ort, auch auf der Schneekoppe saßen
die Spione und alles war mit dem Hauptquartier verbunden.
Keine mangelhafte Übersetzung hatte die nächste Autorin, Angelika
Grunenberg. Im Nachwort ihres Buches "Die Welt war so heil"
Die Familie der Else Ury, Chronik eines jüdischen Schicksals, schreibt
sie:
"Krummhübel übrigens, das heute Karpacz heißt und in Polen
liegt, hat nach der Vertreibung und Enteignung seiner Juden noch eine kurze
Karriere als Nazi-Hochburg gemacht. Genau in jenen Januar-Tagen 1943, in denen
Else Ury in Berlin auf ihre Deportation wartete, in einem eisigen, schneereichen
Winter, ließ der Außenminister des Dritten Reiches, Joachim von
Ribbentrop, einen Teil seines Ministeriums nach Krummhübel verlegen".
Weiter heißt es dann:
"Um die 500 Mitarbeiter und ihre Büros unterzubringen, beschlagnahmte
das Auswärtige Amt sämtliche Gasthöfe und Hotels des Ortes und
der Umgebung, ebenso zahlreiche Privathäuser, vermutlich auch Else Urys
"Haus Nesthäkchen", dessen prominente Lage oben am Hang ja schon
unter den ansässigen Krummhübeler Parteigenossen Begehrlichkeiten
geweckt hatte".
So ausdauernd und akribisch genau Angelika Grunenberg den Briefverkehr zwischen
Else Ury und ihrem Neffen Klaus Heymann recherchiert hat und damit die Grundlage
für ihr bemerkenswertes Buch geschaffen hat, so wenig hat sie in den Berliner
Tagebüchern, recherchieren kann man nicht sagen, gelesen.
Selbst das Jahr der Verlegung des AA nach Krummhübel ist falsch und damit
der Vergleich mit der Deportation nach Auschwitz. Die Verlegung fand zwar auf
den Tag genau, nur eben ein Jahr später statt. In den Tagebüchern
stand auch nicht, das das AA sämtliche Gasthöfe, Hotels und Privathäuser
des Ortes und der Umgebung beschlagnahmt hat. Die Aussage in den Tagebüchern
bezog sich auf Hotels und Pensionen in der Nähe vom Tannenhof.
Krummhübel verfügte, gemeinsam mit Brückenberg und Wolfshau,
die kurz zuvor zu Krummhübel eingemeindet wurden, über 5.500 Gästebetten.
Dabei wurden einige große Häuser, wie das Riesengebirgsheim, Haus
"Brandenburg", "Arbeitsdank", "Waidmannsheil"
und Haus "Giersdorf", die von der Wehrmacht als Lazarett oder zur
Erholung, wie z.B. für U-Boot-Besatzungen, genutzt wurden, nicht berücksichtigt.
Das AA brauchte auch nicht Häuser beschlagnahmen. Einige davon, wie der
Tannenhof, die Villa Heinrich und die Teichmannbaude, gehörten ohnehin
staatlichen Institutionen. Private Häuser waren über Einquartierungen
erfreut, denn der Krieg hatte die Touristenströme versiegen lassen.
Dann die Aussage: "Nazi-Hochburg"! Heute auf Grund verstärkter
Aktivitäten von Neonazis fast ein Modewort. Für einen Krummhübler
ein herber Schlag gegen den Heimatort. Frau Grunenberg bezieht es auf die Anwesenheit
des AA in Krummhübel. Betrachtet man die Biographien einiger Mitarbeiter,
wie Generalkonsul Küster oder die bereits in der BW 59/3 und 59/4 erwähnten
Wagner, Thadden, Six, Paul Schmidt, Keppler und weiterer hochrangiger Beamte,
da trifft die Bezeichnung schon zu. Es gab aber auch die Männer des Widerstandes
gegen den Nationalsozialismus, wie die ebenfalls bereits in der gleichen Ausgabe
der Bergwacht erwähnten Graf von der Schulenburg und Hans-Bernd Haeften,
die ihre antifaschistische Haltung mit dem Tod bezahlen mussten. Daraus resultierend
sollte man nicht gleich ins Gegenteil verfallen und vielleicht von einem Hort
des Widerstandes sprechen. Es gab, auch das sollte man nicht vergessen, die
große Anzahl der Mitläufer und Verblendeten, die es in der ganzen
übrigen Bevölkerung auch gab. Die Antwort wird daher irgendwo in der
Mitte liegen.
Kommen wir zu den Berliner Tagebüchern zurück. Einige, nicht unwesentliche,
Abschnitte des Buches beschäftigten sich mit Krummhübel, natürlich
aus der Sicht einer Angestellten des AA, also einer Fremden. In Krummhübel
sagte man, "einer Zugezogenen".
Marie Wassiltschikow, ab sofort nur noch "Missie" genannt, stammt
aus einer alten russischen Adelsfamilie, die 1919 das Land verlassen musste
und über die Stationen Paris und Litauen 1940 nach Berlin kam. Missie war
23 Jahre alt als sie im Auswärtigen Amt eine Anstellung findet. Sie war
gebildet, sprach fließend englisch und russisch und durch ihren persönlichen
Charme sehr beliebt. Ihre Tagebuchnotizen erschienen nach ihrem Tode 1978, erstmals
1985 in England, herausgegeben von ihrem Sohn.
Missie schreibt recht unbekümmert über ihr Erleben in Krummhübel.
Ihre Ortskenntnisse waren mangelhaft und man braucht schon etwas Phantasie um
richtige Schlussfolgerungen aus manchen Schilderungen zu ziehen. Dennoch ein
wichtiges Zeitdokument. Weitere erwähnenswerte Bücher zu diesen Thema
sind, Erich Franz Sommer, "Geboren in Moskau" und Hans-Georg von Studnitz
"Als Berlin brannte".
Aussagen dieser Bücher wiederum nahm ich zum Anlass, um bei den von mir
erwähnten "jungen Menschen" aus Krummhübel und Umgebung
erneut zu recherchieren. Auch wenn das noch vorhandene Wissen manchmal gering
war, aber wie bei einem Mosaik, ergaben viele kleine Teile, am Ende ein größeres
und recht aussagekräftiges Gebilde.
Dennoch wäre es weitestgehend unvollständig geblieben, wenn nicht
ein Geistesblitz, in Form eines Anrufes beim Auswärtigen Amt in Berlin,
weitere richtungsweisende Informationen gebracht hätten.
Gleich mein erster Anruf in der Politischen Abteilung war ein Erfolg. Mit Dr.
Peiker hatte ich einen Gesprächspartner gefunden, der die Problematik bestens
kannte und meinem Anliegen sehr wohlwollend gegenüber stand. Er ermunterte
mich, schriftlich Akteneinsicht zu beantragen. Ein Mitarbeiter seiner Abteilung
würde sich der Sache annehmen, da er selbst Urlaub hatte. Dieser freundliche
Mitarbeiter fand sich mit Dr. Kröger, der die entsprechenden Akten bereitstellte
und auch weitere Fragen meinerseits uneigennützig beantwortete.
Ehe nun Missie ihre neue Arbeitsstelle in Krummhübel antrat, kam nach dem
katastrophalen Luftangriff auf Berlin, am 23. November 1943, ein Vorkommando
des AA nach Krummhübel, um Quartiere und Arbeitsplätze vorzubereiten.
Heimatfreund Siegfried Lorenz aus Wolfshau, Nr.39 "Haus Lorenz", kann
sich an diese Ankunft noch gut erinnern. Als Mitglied im Jungvolk hatte er und
noch einige Freunde, darunter Werner Gräbel vom gleichnamigen Baugeschäft,
den Aufrag die ankommenden Beamten in ihre Quartiere zu geleiten. Ihr Hauptquartier
hatten sie in der "Goldenen Aussicht" und harrten dort in mehr oder
minder freudiger Erwartung auf die Ankunft der Beamten. Sie harrten vergeblich.
Ein Busfahrer, wahrscheinlich ortskundig, hatte die Quartiere auf direkten Wege
angefahren.
Zur Unterbringung des AA existierte ein Arbeitsstab der bereits in Krummhübel tätig war. Ranghöchster Mitarbeiter war zweifelsohne Wilhelm Keppler, Staatssekretär, Berater von Hitler in Wirtschaftsfragen und SS-Obergruppenführer (entsprach einem General der Infanterie bei der Wehrmacht). Er residierte in Ober-Krummhübel im Haus "Carmen".
Chef des Quartieramtes, verantwortlich für Unterbringung und Organisation war Generalkonsul Walter Wüster. An seiner Seite befand sich SS-Sturmbannführer Dr. Nitsch. Ihr Büro befand sich im Haus "Quisisana" im Breitehau. Als Sekretärin fungierte Frau Lilly von Gehlen, welche in der Villa Haase logierte.
GK Wüster war mit seiner Familie
angereist und wohnte in Wolfshau in der Villa von Waldemar Bergmann, einem Industriellen
aus Breslau.
Er war Jahre zuvor Organisator der Ausstellung "Der ewige Jude", später
Gesandter in Rom. Im Ministerium galt er als Propagandafachmann. 1940 entsandte
ihn der Reichsaußenminister als seinen Sonderbeauftragten nach Preßburg,
um den slowakischen Propagandaapparat nach deutschem Vorbild zu reorganisieren.
Zur Arbeit wurde der Generalkonsul gefahren, am Anfang wohl mit dem Auto. Heimatfreund
Rainer Frömberg, damals wohnhaft in Wolfshau, kann sich noch an einen großen
Mercedes erinnern. Später musste er wohl auch die Dienste der Aserbaidschaner
nutzen.
Heimatfreund Lorenz wohnte in der unmittelbaren Nachbarschaft und hatte sich
mit der sehr hübschen Tochter namens Erika angefreundet. Sie ging in Hirschberg
auf das Gymnasium, wohin sie täglich den Zug benutzte. Wenn sich die Gelegenheit
ergab holte sie Siegfried Lorenz vom Bahnhof ab. Eines Tages ergab sich wieder
diese Gelegenheit. Plötzlich erschien auch der Generalkonsul im Schlitten
eines Aserbaidschaner in der gleichen Absicht. Enttäuscht malte sich Siegfried
aus, wie er den langen Weg nach Wolfshau allein zurück legen würde.
Umso erstaunt und erfreut zugleich war er, als ihn der Generalkonsul zur Mitfahrt
einlud. Damit nicht genug, er selbst nahm auf dem Kutschbock Platz und Siegfried
durfte an der Seite von Erika Platz nehmen. Die Fahrt blieb nicht unbeobachtet
und die Bewunderung seiner Freunde am nächsten Tag war ihm gewiss.
Weitere Dienststellen waren die Bauleitung und die Sonderstaffel, welche sich
unter Leitung von NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps) Sturmführer
Gretscher im Waldhaus Weimar befand. Auch die Verantwortlichen für die
Telefonanlagen, Fernschreiber und Auftragsdienst befanden sich im gleichen Haus.
Der Reichsaußenminister (RAM)
hatte ebenfalls ein Büro. Es befand sich im Haus Roth und wurde vom Vortragenden
Legationsrat Dr. Lohmann geleitet. Angestellte von RAM wohnten in den Häusern
"Ibach" und "Fortuna".
Dem Reichsaußenminister direkt unterstellt war die Referatsgruppe Inland
II. Diese war auch für "Judenvorgänge" zuständig. Die
Leiter und Referenten gehörten fast ausnahmslos der SS an. Himmler und
die SS-Hauptämter nahmen durch dieses Referat massiven Einfluss auf die
Politik und das Personal des AA. Legationsrat I. Klasse, Horst Wagner war ab
April 1943 als Leiter der Gruppe Inland II zuständig für "Antijüdische
Auslandsaktionen". Von ihm stammte die Idee einer gemeinsamen Konferenz
von Auswärtigem Amt und SS zur Koordinierung bei der Umsetzung der "Endlösung"
der Judenfrage. Die Tagung fand im April 1944 in Krummhübel statt.